Tsue Hayashi.   
Nagasaki, 15. August 1985.

Frau Hayashi ist die Mutter der 15jährigen Kayoko, die nach der Explosion der Nagasaki-Bombe vermisst wurde. Die Geschichte von Tsue Hayashis Suche nach ihrer Tochter ist in Nagasaki zur Legende geworden.

»Am Morgen nach der Explosion, und jeden Tag danach, ging ich von frühmorgens bis abends durch die ganze Stadt und suchte nach Kayoko. Ich sah viele Menschen leiden und sterben. Es war sehr traurig. Ich spürte zutiefst die ungeheuere Macht der Atombombe. Ich erinnere mich nicht, einen einzigen Menschen unterwegs gesehen zu haben.«

 

Tsue Hayashi,
84 - Sakurababa, Nagasaki, Japan, 14. August 1985

   Tsue Hayashis einziges Kind hatte den Namen Kayoko. Im August 1945 war Kayoko fünfzehn Jahre alt. Wie viele Kinder ihres Alters wurde sie zur Arbeit in einem Rüstungsbetrieb dienstverpflichtet. Sie arbeitete in der Shiro-yamaGrundschule die man in eine Fabrik umgewandelt hatte, in der Torpedos montiert wurden. Die Schule lag im UrakamiDistrikt von Nagasaki, 3,5 Kilometer von ihrem Elternhaus.

 

   Die Geschichte von Kayokos Kirschbäumen ist in Nagasaki allgemein bekannt, doch ausserhalb der Stadt wissen nicht viele davon . . .

   Das ist richtig. Man kennt sie nicht. Ich wollte auch nie, dass die Geschichte berühmt wird. Mir ist es lieber, man lässt Kayokos Kirschbäume in Frieden. Es kam dazu, weil es mein Anliegen war, für Kayokos Seele und für alle Opfer der Bombe zu beten.

   Wie beginnt die Geschichte?

   Am Morgen des 6. August gab ich Kayoko ihr Lunchpaket, und sie verliess das Haus, um in die ShiroyamaGrundschule zur Arbeit zu gehen. Nach ein paar Minuten kam sie zurück und legte ihr Lunchpaket auf den Tisch. Ich fragte sie:
   »Was ist denn?« Sie sagte:
   »Ich möchte heute nicht arbeiten.« Das war ungewöhnlich. Kayoko war ein gewissenhaftes Mädchen. Sie arbeitete immer sehr fleissig

   Dies war das erste Mal, dass sie so etwas gesagt hatte. Ich wollte ihr sagen, sie solle sich einen Tag freinehmen, aber ich tat es nicht. In zwei Tagen hatte sie nämlich Geburtstag, und ich wollte, dass sie sich dafür frei nimmt. Wenn sie sich jetzt den Tag freigenommen hätte, wären es zwei Tage in der Woche gewesen.
   Deshalb sagte ich ihr, geh zur Arbeit, und übermorgen hast du einen freien Tag. Sie nahm ihr Lunchpaket und ging zur Arbeit. Ich war es, der sie fortschickte. Und deswegen mache ich mir ewige Vorwürfe.

   Später an diesem Morgen fiel die Bombe. Zuerst war mir nicht bewusst, dass es eine Atombombe war. Ich sah nur ein helles Knistern, wie Funken von der Oberleitung einer Strassenbahn, und ich hörte ein Donnern. Ich rannte barfuss aus dem Haus und sah, dass der Himmel über Urakami voll von schwarzem Rauch war. Mein erster Gedanke war, Kayoko zu holen. Ich lief in Richtung Urakami, aber unser Blockwart sah mich und rief:
    »Wo gehen Sie hin?« Ich sagte:
   »Kayoko ist in Urakami!« Er hielt mich fest und sagte:
   »Wenn Sie dort hingehen, ist es Ihr Tod!«

   Ich stand lange Zeit da. Der Rauch wurde zu einem Flammenmeer. Ich ging nach Hause. Menschen mit Verbrennungen im Gesicht und am Rücken kamen an meinem Haus vorbei. Manchen hing die Haut in Fetzen herunter. Ich fragte sie:
   »Wie ist es in Urakami? Haben Sie Kayoko gesehen? Sie hat in der Shiroyama-Grundschule gearbeitet.« Sie erzählten mir, eine grosse Bombe sei abgeworfen worden und Urakami sei zerstört.

   Die ganze Nacht wartete ich auf der Veranda, dass Kayoko nach Hause kam. Ich betete darum, sie möge noch am Leben sein. Am Morgen nach der Explosion, und jeden Tag danach, ging ich von frühmorgens bis abends durch die ganze Stadt und suchte nach Kayoko. Ich sah viele Menschen leiden und sterben. Es war sehr traurig. Ich spürte zutiefst die ungeheure Macht der Atombombe.

   Ich erinnere mich nicht, einen einzigen Menschen unterwegs gesehen zu haben. Vielleicht lag es an dem Gerücht, dass man früher sterben muss, wenn man nach Urakami hineingeht. Es gab dort keine Bäume mehr, kein Gras, keine Häuser, nur eine Menge zerbrochene Dachziegel. Und viele Leichen. Ich dachte:
   »Ich habe von der Hölle gehört. So muss es dort sein.«
   Manche Menschen lagen noch in den letzten Zügen. Wenn ich an ihnen vorbeikam, sagten sie:
   »Bitte, geben Sie mir Wasser. Bitte helfen Sie mir.«
Ich konnte nur sagen:
   »Es tut mir leid. Ich habe kein Wasser. Ich kann Ihnen nicht helfen.
   Vergeben Sie mir. Ich muss mein Kind suchen.«

   Während ich nach meinem Kind suchte, dachte ich immer wieder an das Wissen der Menschheit. Ich fragte mich:
   »Was in aller Welt ist dieses Wissen?«

   Was immer es war, ich hasste es. Es waren nicht die schlechten Menschen, die getötet wurden. Die A- Bombe tötete jeden. Selbst verurteilte Verbrecher haben einen besseren Tod als die Menschen, die ich leiden sah. Ich konnte ihnen nicht helfen, und ich musste an ihnen vorbeigehen.

   Meine Füsse bluteten, aber ich dachte weiter über das Wissen der Menschheit nach. Wer hatte diese Bombe erfunden? Wenn sie so intelligent waren, warum hatten sie nicht auch etwas erfinden können, das die Opfer wieder heilen konnte? Ich wusste, dass es auf meine Fragen keine Antwort gab. Ich denke, die Menschheit hat die Büchse geöffnet, von der Gott in der Bibel sagt, man dürfe sie nie öffnen. Ich hoffe, die Menschheit wird die A-Bombe nie wiede benutzen.

   Tag für Tag, einundzwanzig Tage lang irrte ich umher und suchte meine Kayoko. Es war Hochsommer, und tags über war es sehr heiss. Einmal suchte ich in den Bergen nach Kayoko und sah eine Frau mit einem Baumwollschal um den Kopf, die ihr Baby stillte. Etwas an ihrem Anblick erschreckte mich, und ich fragte mich, ob sie noch ein menschliches Wesen war. Ich ging näher, und da sah ich, dass sie nicht mehr von dieser Welt war. Es war eine Leiche.
   Als ich das sah, dachte ich: »Wie beklagenswert!« Vielleicht können nur Frauen verstehen, was es heisst, ein Kind zu stillen. Es ist ein sehr reiner und unschuldiger Augenblick. Es ist wie der Himmel auf Erden. Die A-Bombe hatte die Frau in diesem Augenblick der Reinheit und Unschuld getötet.

   Anfangs suchte ich noch nach einem lebenden Kind, doch etwa nach der halben Zeit begann ich, unter den Leichen nach ihr zu suchen. Doch die Leichen waren so verkohlt, dass man nur noch die Form des Schädels erkennen konnte. Ich beschloss, auf das Gebiss zu achten. Mein Kind hatte Zähne mit zwei auffallenden Merkmalen. Die unteren Schneidezähne standen leicht vor, und der Zahnarzt hatte bei ihr mit der Behandlung eines Backenzahns begonnen. Ich öffnete also die Münder von Toten, um die Zähne anzuschauen. Manche hatten den Mund so fest zugepresst, dass ich ihn mit Gewalt öffnen musste.

   Eines Tages fand ich eine Leiche, deren Zähne wie die von Kayoko aussahen. Ich war mir allerdings nicht sicher, denn Kayokos Backenzahn hatte noch keine Füllung, während es bei diesem Leichnam so aussah, als wäre da eine Füllung.
    Trotzdem dachte ich: >Es ist Kayoko.< Und ich brachte die sterblichen Überreste nach Hause. Ich hielt eine Trauerzeremonie mit meinen Nachbarn.

   Nach dem Begräbnis blieb Unruhe in meinem Herzen zurück. Um diese Zeit hatte ich einen Traum. In dem Traum sah ich Kayoko durch die Ruinen irren. Deshalb dachte ich: >Kayoko ist noch immer da draussen und wartet auf mich. Vielleicht ist sie sogar noch am Leben, aber schon so schwach, dass sie nicht mehr rufen kann.< Also suchte ich weiter nach meinem Kind, jeden Tag, selbst nach dem Begräbnis.

   Endlich fand ich mein richtiges Kind. Es geschah einundzwanzig Tage nach der Explosion der Bombe. Ich fand sie im obersten Stockwerk der ShiroyamaGrundschule. Es war das dritte Mal, dass ich dort hinaufgegangen war, um nach ihr zu suchen. Um ins dritte Stockwerk zu gelangen, musste ich kriechen, weil die Treppe zerstört war.

   Woher wussten Sie, dass es diesmal wirklich Kayoko war?

   Während des Krieges hatte ich aus meinem Baumwoll-Kimono einen Luftschutzumhang für Kayoko gemacht. Ich hörte, das Baumwolle nicht so leicht brennt. In die Kapuze nähte ich ein kleines Notizbuch ein, in das ich mein Testament geschrieben hatte. Darin sagte ich Kayoko, wie sie leben sollte, wenn ich einmal sterbe. >Ich habe alles, was dir gehört, unter dem Haus meiner Eltern auf dem Land vergraben. Hole es dir, wenn der Krieg vorüber ist.< Ich sagte ihr, wie unsere finanziellen Verhältnisse waren, und sie solle es sich einprägen und entsprechend leben. >Du sollst nie Selbstmord begehen, auch wenn ich sterbe und du sehr traurig bist. Halte am Leben fest. Du wurdest geboren mit der Fähigkeit zu überleben.<

   Als ich diesmal in der Shiroyama Grundschule nach oben ging, sah ich ein Stück von dem Umhang. >Was ist das?< dachte ich und lief hin.

   Dort fand ich den Oberkörper meiner Tochter. Er war halb verkohlt. Der untere Teil ihres Körpers war nicht mehr da. Alles andere im dritten Stock war vollständig verbrannt. Die Knochen der anderen waren verbrannt und wie Gries geworden. Doch das Skelett meiner Tochter war erhalten geblieben, obwohl das Fleisch verbrannt war.
   Und ihr offener Mund bildete ein »ah«, als würde sie sagen »Ka-a-a-a.« Als ich das sah, dachte ich, mein Kind müsse »O-ka-cha-ma<< gerufen haben (Mammi), bevor es starb.

   War das Notizbuch noch in der Kapuze?

   Ja, es war nicht verbrannt. Es war sehr traurig, mein Testament an diesem Ort wiederzufinden. Ich wickelte die sterblichen Überreste meines Kindes in Tücher. Um ins Erdgeschoss zu kommen, musste ich abwärts rutschen und das Bündel nachziehen. Unten habe ich dann mein Kind eingeäschert. Als ich wieder zu Hause war, bekam ich sehr hohes Fieber und musste im Bett bleiben.

   Was geschah mit den sterblichen Überresten des anderen Kindes?

   Ich habe es mit Kayoko im gleichen Grab beerdigt. Das unbekannte Kind wurde also bestattet wie ein Mitglied meiner Familie. Wenn das Fest der Toten kommt, lasse ich den Priester auch für das unbekannte Mädchen beten. Wissen Sie, was Ta-mu-ke ist? Es bedeutet, den Toten eine Opfergabe darzubringen, zum Beispiel Blumen oder kleines Gebäck. Noch heute bringe ich jeden Tag gekochten Reis und Tee als Opfergabe.

 

Tsue Hayashi

   Für Kayoko?

   Ja. Aber ich sah viele Tote, überall. Ich ging weinend zwischen ihnen hindurch. Als der Krieg vorbei war, wollte ich gern eine bleibende Gabe darbringen. Ich überlegte hin und her. Ich beschloss, dass ich Kirschbäume rings um die Schule pflanzen wollte. Ich wollte es für ihre Seelen tun. Für die Seelen von ... Für die Seelen aller.
   Wenn es nur für Kayoko gewesen wäre, hätte ich nicht gewagt, um die Erlaubnis zum Pflanzen der Bäume zu bitten. Es waren Tausende gestorben - es waren so viele Leichen, dass es schwerfiel, nicht auf sie zu treten. Ich wollte all diesen Menschen etwas darbringen. Die Kirschbäume waren für alle. Verstehen Sie?

   Die Lehrer von Shiroyama sagten: »Gut, Sie dürfen Kirschbäume pflanzen.« Aber es gab damals in Nagasaki keine Setzlinge. Ein Gärtner sagte mir:
   »Es gibt nicht einmal Lebensmittel, ganz zu schweigen von jungen Kirschbäumen!« Ich bat den Gärtner und seinen Sohn, sie aus Kurume auf der anderen Seite der Bucht zu besorgen. Sie pflanzten die Bäumchen rings um die Schule. Es war wunderschön, als sie blühten.

   Danke, dass Sie die Geschichte erzählt haben. Ich habe heute gelernt, dass Kayokos Kirschbäume nicht nur für Kayoko waren, sondern,für alle.

   Wissen Sie was? Ich habe sie nie »Kayokos Kirschbäume« genannt. Die Schule hat das getan. Ich hätte sie einfach »Ta-mu-ke no sakurao genannt (Kirschbaum-Gabe für die Toten). Ich habe auch das Denkmal nicht errichtet. Das ging von der Schule aus. Das Ganze wurde dann zunehmend bekannt und berühmt, und mir ist das ein wenig peinlich.

Nach der Übersetzung aus dem Japanischen von Setsumi Del Tredici.

 

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